Begegnung am Ende der Welt

Ich stelle meine Schuhe in den Kühlschrank. Die Sohle habe ich schon herausgenommen. Sie stehen genau an der Stelle, wo meine Mutter den Käse hinstellen würde. „Den Käse stell‘ immer ganz nach unten im Kühlschrank. Am besten über die Obst- und Gemüsefächer.“ Welch Ironie, dass genau dort nun meine Schuhe ihren Platz gefunden haben. Zugegebenermaßen riechen sie ein wenig. Und es ist genauso unangenehm, davon zu schreiben, wie den Duft wahrzunehmen. Aber es ist die Wahrheit. Und das Ergebnis tagelangen Wanderns durch die kurvigen Berglandschaften Neuseelands.

Neuseeland an sich erscheint mir klein. Noch vor gar nicht so langer Zeit durchquerte ich die australische Südküste, hunderte Kilometer trennten meine Nachtlager voneinander. Unendliche Weite, stundenlang keine Menschenseele. Einmal traf ich im Alpine National Park auf 1.800 Metern Höhe einen Polizisten. Mitten im Nichts. „Verkehrskontrolle“, antwortete er mir auf meine Frage, was er denn hier oben treiben würde. „Hier oben fahren die Leute manchmal, als gäbe es kein Morgen.“ Ich verkniff mir die Frage, ob man es nicht an einer Hand abzählen könne, wie viele Menschen hier oben ihre Karriere als Rallyefahrer beginnen und machte mich wieder auf den Weg. Es dauerte noch einige Stunden bis ich das Gebirge durchkreuzt und meinen Schlafplatz gefunden habe.

Neuseeland ist da anders. Kurvige Strecken, spiegelglatte Seen und eine Szenerie zum Dahinschmelzen. Neuseeland ist alles andere als rau. Neuseeland ist elegant und wohlwollend. Geradezu verträumt. Genauso erscheinen mir auch seine Einheimischen.

Am meinem ersten Abend in Wellington lerne ich Ezylaine und Raymond kennen. Die beiden sind 82 und 85 Jahre jung. Wir kommen sofort ins Gespräch, als mein Glas gefüllt mit schwarzem Guinness Draught dem regionalem Steinlager Pilsner von Raymond zuzwinkert. „Morgen fahren wir mit dem Zug nach Haus'“, beginnt Raymond das Gespräch. Seine Stimme wirkt etwas zittrig, aber dennoch selbstbewusst und sehr emotional. „Wir sind echte Aucklanders. Oben aus dem Norden. Auckland ist die größte Stadt hier in Neuseeland.“ Ein unheimlicher Stolz spricht aus seinen Worten. „Warst du schon dort?“ Ich verneine und erkläre, dass ich heute erst in Wellington gelandet sei. Mit einem Auge gelingt es mir währenddessen einen Blick aus dem Fenster zu werfen, ohne den Beiden gegenüber geistesabwesend zu erscheinen. Es ist fast dunkel. Die Sonne hatte sich bereits hinter dem großen Berg verkrochen, an dessen Fuße mein Auto parkt. Eigentlich wäre es nun an der Zeit, mein Bett zu machen, bevor ich gar nichts mehr sehen würde.

Ich wende mich wieder Ezylaine und Raymond zu. Sicher würde ich nach den letzten Schlücken Bier gleich ins Bett verschwinden. „Wie alt bist du, mein Junge?“, wirft Ezylaine ein. Sie kappt das fast typische Opa-Enkel-Gespräch zwischen Raymond und mir so gekonnt, als kannte sie seit Jahren die Stellen im Gespräch, an denen ihr Mann das Glas zur Hand nahm und einen großen Schluck trank. „Einundzwanzig“, entgegne ich ihr mit einem ehrlich gemeintem Lächeln auf den Lippen. Die Beiden sind mir unheimlich sympathisch. „Einundzwanzig!“, stößt sie laut aus, „Mensch Junge, du hast das ganze Leben noch vor dir! Was führt dich nach Neuseeland?“

Tja, eine gute Frage eigentlich. Was führt mich ans andere Ende der Welt? Die Sehnsucht nach Freiheit? Der Wille, eine neue Welt kennenzulernen? Die Suche nach Inspirationen für neue Projekte?

„Morgen treffe ich mich hier mit meiner Freundin“, antworte ich zurückhaltend. „Wir sind kurz vor meiner Abreise ein Paar geworden und da ist es ungünstig, wenn ich die gesamte Reise allein gemacht hätte.“ – „Sie muss dich wohl wirklich lieben, hm? Das sieht man dir an.“ Raymond schmunzelt. Entspannt in seinen Stuhl zurückgelehnt, fast schon gut gebettet, schielt er zu seiner Frau hinüber, als wisse er bereits, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. Mit einem dezenten Fingerzeig auf sein fast leeres Glas bestellt er sich noch ein Bier. Seinem Blick nach zu urteilen, ist Ezylaine nun in ihrem Element. Sie nimmt einen Schluck Weißwein, bevor sie den nächsten Satz beginnt. Sauvignon Blanc. Die beste Sorte, die das Land zu bieten hat, wie sie immer wieder betont.

„Vor sechzig Jahren sah er noch genauso schwer verliebt aus wie du.“ Liebevoll tätschelt sie Raymonds Knie. „Da haben wir nämlich geheiratet. Quasi in deinem Alter. Kannst du dir das vorstellen?“

Ich bin beeindruckt. Für einen kurzen Moment weiß ich nichts darauf zu antworten. Schließlich kannte ich bisher nur meine Großeltern, die so lang verheiratet waren, bis mein Großvater starb. „Sechzig Jahre?“ Ich sehe Ezylaine mit großen Augen an. Ihr Blick schweift über den Glasrand, den sie hin und wieder an ihrem Mund ansetzt, um einen Schluck Wein zu nehmen. „Da staunst du, was? Und glaube mir, auch wir hatten diese Ich bin total unabhängig und gelassen-Phase, die ihr jungen Leute heute lebt. Allerdings gemeinsam. Wir haben nie voneinander abgelassen und einander wirklich zugehört. Ich denke, das ist das Geheimnis.“ In der für sie typischen Art und Weise greift Ezylaine noch einmal nach ihrem Getränk. Sie fasst es mit einem leichten Druck am Stiel, spreizt dabei den kleinen Finger von der Hand ab. „Weißt du, warum sie ihr Glas so hält?“, wirft Raymond schnippisch ein. „Unsere Tochter ist mit einem wirklich klassischen Briten verheiratet und lebt oben in Großbritannien. Da hat sie diesen eleganten Stil kennengelernt und seither regelmäßig nachgeahmt.“ Raymond lacht. Gelassen beobachtet er das Gespräch quasi von der Seitenlinie.

„Früher war er ein echter Gentleman!“ Ezylaine lässt von ihrem Weinglas ab und küsst Raymond schmunzelnd auf die Wange. „Nein, das ist er immernoch. Und das obwohl wir uns wirklich oft in verschiedene Richtungen verändert haben. Wahrscheinlich hätten andere Paare gesagt ‚Wir haben uns auseinander gelebt, da hilft nichts mehr.‘ Doch ich glaube, so einfach ist es nicht. Ihr jungen Leute lebt heutzutage so schnell. Eure Angst etwas zu verpassen muss riesig sein.“ Ich sehe sie für einen kurzen Moment an. „Was meinst du damit?“, frage ich schließlich neugierig. „Naja. Ihr gebt den Dingen keine echte Chance. Wann warst du vor deiner Reise ans andere Ende der Welt wirklich aufmerksam? Nicht nur anderen Menschen, sondern auch der Natur gegenüber. Wahrscheinlich selten. Und deshalb ist es so wichtig, Achtsamkeit zu lernen. Gib Acht auf Menschen, die dir wichtig sind und stoße niemandem voreilig vor den Kopf. Betrachte die Natur als ein Geschenk und ärgere dich nicht über ein paar Regentage, wenn du im Urlaub bist. Du musst das Wundervolle in den Dingen wahrnehmen. Wenn sich zum Beispiel dein Partner in eine Richtung verändert, die dir unbekannt ist, fühlt es sich für dich womöglich an wie drei Regentage ohne Pause. Du hast etwas anderes erwartet und bist völlig machtlos. Doch auch Regen hat seinen Zweck: Pflanzen wachsen so auf natürliche Art und Weise und vielleicht ist dir auch schon einmal aufgefallen, dass die Luft danach viel klarer ist.“ Einen kurzen Augenblick lang bewundere ich ganz bewusst Ezylaines Art, die Dinge zu sehen und einzuschätzen. Vielleicht verpassen wir viel zu viele Dinge in unserem Leben, weil wir den älteren Menschen kaum noch Aufmerksamkeit schenken. „Was ich damit sagen möchte ist eigentlich ganz einfach: Gib deinem Partner ruhig den Raum, sich zu verändern. Lasse Gewitter zu, Regentage vorbeiziehen und genieße natürlich die Sonnenzeit einer Beziehung. Wenn du begreifst, dass alles in der Natur seinen Platz und Zweck hat, wirst du lernen zu verstehen, warum alles so passieren muss, wie es nun mal passiert. Auch in einer Beziehung. Akzeptiere deinen Partner, höre zu, wenn er dir etwas sagen möchte und dann erkennst du vielleicht den Regen, der sich anbahnt. Und kannst einen Schirm aufspannen.“

Mit einem bewundernden Kopfschütteln und zustimmenden Lächeln auf den Lippen legt Raymond den Arm um seine Frau. „An dir ist ja glatt ein Poet verloren gegangen“, bemerkt er liebevoll. „Aber sie hat Recht, mein Freund. Genieß‘ das Leben mit all seinen Facetten. Lerne die Welt kennen. Wenn du den Trick raus hast, wird dir die Welt plötzlich ganz klein vorkommen. Weil du die Menschen verstehen kannst und sie dich verstehen. Ich glaube, du bist so ein Typ dafür.“ Seine Unterlippe zittert nach wie vor ein wenig nach oben und unten, während er spricht. Und doch – oder vielleicht gerade aufgrund dieser Eigenart, die seine Lebenserfahrung auf ganz eigene Art und Weise unterstreicht – kommt es mir vor, als wähle er ganz bewusst jedes Wort, das er spricht. „Wenn du auf deine innere Stimme hörst, die immer da ist, läufst du automatisch in die richtige Richtung. Koste deine Reise voll aus und lass‘ dich von deiner Intuition führen. Neuseeland ist wunderschön.“


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Autor: Alex Schreiner

World-Traveller & grenzenloser Optimist. - "Finde dein Glück in der Vielfalt der Welt."

11 Gedanken zu „Begegnung am Ende der Welt“

  1. … „Vor sechzig Jahren sah er noch genauso schwer verliebt aus wie du.“ Liebevoll tätschelt sie Raymonds Knie. „Da haben wir nämlich geheiratet. Quasi in deinem Alter. Kannst du dir das vorstellen?“

    Ich bin beeindruckt. Für einen kurzen Moment weiß ich nichts darauf zu antworten. Schließlich kannte ich bisher nur meine Großeltern, die so lang verheiratet waren, bis mein Großvater starb. „Sechzig Jahre?“ Ich sehe Ezylaine mit großen Augen an. Ihr Blick schweift über den Glasrand, den sie hin und wieder an ihrem Mund ansetzt, um einen Schluck Wein zu nehmen. „Da staunst du, was? Und glaube mir, auch wir hatten diese Ich bin total unabhängig und gelassen-Phase, die ihr jungen Leute heute lebt. Allerdings gemeinsam. Wir haben nie voneinander abgelassen und einander wirklich zugehört. Ich denke, das ist das Geheimnis.“

    … Meine Fresse, hast du einen geilen Schreibstil! Du beobachtest, beschreibst und kannst das auch noch für andere festhalten. Great! Reise weiter um die Welt. Lerne sie kennen. Die Welt und genau die Typen, die du da gerade triffst. Das ist toll! Ich beneide dich dafür. – Und ich gönne es dir mindestens genauso und noch viel mehr. Wenn du magst: Zum Abschluss deiner Reise lade ich dich ins schöne Nordwestmecklenburg ein. Wismar. Unesco-Welterbe. Kein Hotel, aber drittes OG mit wundervollem Blick über die Dächer von Wismar. Einen Besuch bei Opa Siegfried inklusive. Enjoy it! 🙂

  2. Ja, da hat Holger vollkommen recht. Schreiben kannst du wirklich. Das fasziniert insbesondere einen „sprachformalisierten“ Juristen wie mich. Da solltest du was draus machen und weiter Spaß dran haben. Ich wünsche dir bzw euch weiterhin eine wunderschöne Reise. Bis bald.

    1. Haha 😀 Lies‘ nochmal im ersten Abschnitt nach 😜

      Weil wir auf einigen Wanderungen (u.a. im Regen waren) und der „Schuh im Kühlschrank“ sozusagen eine Geheimwaffe als Vorbeugung oder Bekämpfung gegen riechende Schuhe ist 😀🤓

  3. Wahrlich poetisch. Was für eine wundervolle Begegnung und Geschichte. Danke, dass du sie aufgeschrieben und geteilt hast.
    Und die Erfahrung die Ezylaine und Raymond gemacht haben – ich kann da mit meiner (doch nur fast halb so alten) Lebenserfahrung zustimmen.
    In einer Beziehung ist Reden oft Gold und Schweigen Silber.

    Es grüßt
    DieReiseEule

  4. Schöner Schreibstil! Habe ich gerne gelesen! 🙂
    Genieße deine Zeit hier in Neuseeland! Es ist wunderschön und verzaubernd 🙂
    Und wenn du weiterhin die Augen offen hältst, wirst du noch mehr solcher besonderen Momente erleben! 🙂
    Mit lieben und inspizierten Grüßen!
    Faye

  5. Mir gefällt Dein Schreibstil sehr – ich mag das Alltägliche, das Bodenständige, das Wahre. Wohl deshalb ist mir ein Gespräch wichtiger als eine Weltreise oder eine moderne Bespaßung. Deine gut erzählte kleine Geschichte habe ich sehr genossen. Vielen Dank.

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