Juni 11

Von Werten und Cojones

Als ich noch klein war, hielt ich mich für ziemlich erwachsen. Das Gefühl, in meinem jungen Alter bereits alles besser zu wissen, als meine Eltern und mein sonstiges ursprünglich wohlwollendes Umfeld, durchdrang meine Lebenserfahrung Tag wie Nacht.

Ich hörte nicht auf meine Lehrer. Schule war ohnehin Unfug. Ich lauschte auch nicht den mahnenden Worten meines Vaters, wenn ich wieder einmal Mist gebaut hatte – sah ich mich doch ohnehin im Recht. Ich wusste mich aus jeder noch so glasklaren gegen mich sprechenden Situation herauszuwinden. Ich fand die Schuld bei Anderen. Ich selbst blieb unversehrt. Ich war derjenige, der alles richtig macht.

„L’état, c’est moi“, hieß es einst bei einem französischen Kaiser. Hätte ich im Geschichtsunterricht besser aufgepasst, wüsste ich sicher noch, wer genau dahinter steckte. Sicher ein Napoleon oder einer der zahlreichen Ludwigs. Doch auch, wenn ich kein Kaiser war, so stieg mir meine wohl behütete Jugendrolle hier und da zu Kopfe. Ich sah mich zwar nicht als den Staat in Person. Jedoch als weltmännisch genug, um in meiner an sich verheißungsvollen Ausgangssituation immer wieder den Elefanten im Porzellan-Laden zu geben.

Dabei hätte es schlichtweg gereicht, meine innere Haltung zu verändern. Weg vom Null-Bock und Die-Anderen-sind-alle-doof hin zu ein wenig mehr Fleiß. Auch bei den Dingen, die keine Freude bereiten.

Meine Oma würde an dieser Stelle sicher intervenieren und mir zur Seite springen. Um einzuwerfen, dass ich es auch nicht immer leicht hatte – und mir viele Steine in den Weg gelegt worden seien. Doch, sorry Oma, nüchtern betrachtet hatte ich es verdammt leicht. Vielleicht sogar zu leicht – schließlich muss man sich aus pubertierender Teenager doch an irgendetwas aufreiben. Und vielleicht mangelte es mir genau daran. Also legte ich mir eine Art Phantomschmerz zu. Junge Menschen bedürfen schließlich möglichst viel Aufmerksamkeit.

So in etwa wie der Fußballspieler Neymar, der sich bei der vergangenen Weltmeisterschaft sage und schreibe über 1.000 Meter lang über den Rasen kugelte, um unter Beweis zu stellen, wie ungerecht doch mit ihm umgegangen wurde.

Bildlich gesprochen kugelte ich mich auch gern. Besonders dann, wenn mich einer meiner vermeintlich unfairen Lehrer wieder foulte. Dabei handelte es sich maximal um ein leichtes Trikotzupfen. Inzwischen glaube ich sogar, dass mich der Großteil meiner Lehrer sogar gut leiden konnte und ich schlicht zu versessen war, um dies zu begreifen. Bestimmt gab es Ausnahmen. Aber im Großen und Ganzen habe ich auch hier dem ein oder anderen Lehrkörper unrecht getan.

Ich erinnere mich gut, als mein damaliger Kunstlehrer uns als Klasse mitteilte, er warte auf einen dringenden Anruf während des Unterrichts und müsse sich dafür kurz zurückziehen. Wir, damals Siebtklässler ohne jegliche Fähigkeit zur Empathie, wussten natürlich darauf zu reagieren und drängten ihn mit allerlei Unannehmlichkeiten in die Ecke. Als sein Handy klingelte, verschwand er im Hinterzimmer. Nach gut 10 Minuten, der Anruf dauerte nicht lang, kam er zurück, um ins Kreuzverhör genommen zu werden. Wurde er wohl gekündigt? Hatte seine Frau ihn verlassen? Muss er zum Direktor? Sind seine Haustiere gestorben? Etwa nochmals 10 Minuten dauerte dieser unwürdige Fragenhagel an, während er vergeblich versuchte, den Unterricht fortzuführen. Worum es sich handelte, verriet er uns nicht.

Er starb wenige Wochen später. An Krebs, wovon er in jenen 10 Minuten erfahren haben musste, in denen wir uns im Klassenzimmer über sein sonderbares Verhalten nicht nur amüsierten, sondern regelrecht lustig machten.

Ich erinnere mich nicht genau, wie ich damals reagierte, als ich von seinem Tod erfuhr. Sicher hat mich unsere damalige Reaktion als Klasse innerlich zerfressen, keinesfalls aber war ich nachdenklich gestimmt. Er hätte ja die Wahrheit sagen können, wäre mir sicher über die Lippen gekommen, hätte mich jemand danach gefragt.

Ähnlich verhielt es sich mit einem meiner Klassenkameraden. Wir, damals eine vermeintliche Clique, wenn auch nicht sonderlich loyal untereinander, standen eng zusammen. In den Pausen wurde Fußball gespielt, über Mädchen gesprochen und Einer stand für den Anderen in der Cafeteria Schlange, während der Andere die Tischtennisplatte freihielt und vor den Fremden aus der Parallelklasse schützte. Markus jedoch gehörte nicht dazu. Weder zu den Fremden aus der Parallelklasse, war er doch Teil unserer Klasse, noch aber zu unserer Clique. Dabei hatte er uns nichts getan. Imgrunde war er sogar nett. Erst kürzlich habe ich mir sein Facebook-Profil angesehen. Und bei Gott, ich kann mir nicht erklären, warum wir den armen Kerl damals so mies behandelt haben.

Doch damals galt er als rotes Tuch. Er stand für alles, was wir nicht waren: Politisch engagiert, strebsam im Unterricht und den Lehrern gegenüber loyal. Er lachte nicht mit, als es unserem damaligen Religionslehrer die Sprache verschlug, ehe er verstarb. Vielleicht grenzten wir ihn auch genau deshalb aus. Weil wir innerlich wussten, dass er uns auf der ein oder anderen Ebene ein gutes Stück voraus war. Nicht unbedingt von seiner Leistung in der Schule her. Vielmehr aber von seinem Habitus und seiner Sicht auf die Dinge.

All diese Ansichten und Ausgrenzungen änderten sich jedoch, sobald die Glocke erklang und der Politik-Unterricht begann. Weder ich noch sonst jemand aus unserer Clique kannte sich aus oder wusste dieses Fach überhaupt zu schätzen. Also taten wir, was pubertierende Teenager tun: Wir freundeten uns für 90 Minuten mit Markus an, der sich für eine kurze Zeitspanne wie im siebten Himmel, gebettet in engste nie endende Freundschaft, fühlen musste. Nur, um ihn danach wieder fallen und das Projekt-Plakat tragen zu lassen.

Meine damalige Klassenlehrerin beobachtete all dies mit Argus-Augen. Sie hatte schon immer ein gutes Gespür für junge Menschen. Und so cool ich mich auch immer gab, innerlich war sie mir ungeheuer sympathisch. Doch sie war auch ein Freund klarer Worte im Umgang mit jungen Schülern, und so rief sie uns zu sich, um über unseren Umgang mit Markus zu sprechen. Sie hat lange auf jeden Einzelnen von uns eingeredet und an unsere Vernunft appelliert. Zugegeben, das fruchtete nicht unbedingt. Jedoch sagte sie einen Satz, der mir bis heute Wort für Wort im Hinterkopf bleibt: „Was ihr da macht, nennt man ‚ausnutzen‘.“ Zack. Der hatte gesessen. Zum ersten Mal in meinem zarten jungen Alter stieß mir jemand vor den Kopf. Ich erfuhr zum ersten Mal, das ich etwas falsch gemacht hatte. Mich nicht korrekt verhalten habe. Und in mir regte sich der Drang, das zu ändern. Ich wollte niemanden ausnutzen.

Hin und wieder setzte ich mich neben Markus. Während der Klassenfahrt gab er sogar netterweise vor, sich für meine Lieblingsserie zu interessieren und wir unterhielten uns kurz darüber. Natürlich nur, wenn niemand anders anwesend war. Er war ein netter Kerl, wie ich zunehmend feststellte. Doch um das auch anderen begreiflich zu machen, fehlten mir wohl damals die cojones. Ich war nicht der Anführer der Gruppe, sondern unterlag schlicht dem Herdentrieb.

Inzwischen bereue ich das Ein oder Andere zutiefst. Denn selbst nach der eindrücklichen Ansage unserer Klassenlehrerin ging das Spiel natürlich weiter. Ich glaube, wir alle fühlten uns schuldig und waren bereit, etwas zu ändern. Den konkreten Schritt in die richtige Richtung ging aber niemand. Schließlich wollte man cool sein. Selbst nicht ausgegrenzt werden. Immerhin wusste jeder von uns, was einem da blüht.

Man könnte nun sagen: „Ja, Kinder sind nun mal grausam.“ Aber so einfach ist das nicht. Kinder sind nicht einfach grausam. Kinder sind per se offen – auch für Kinder, die anders sind. Jugendliche dagegen, können grausam sein. Besonders untereinander.

Wie so häufig im Leben, sollte sich auch für mich der Spieß irgendwann drehen. In etwa der neunten oder zehnten Klassen war ich derjenige, der eher außen vor war. Nicht allzu gut integriert.

Ich hatte eine gewisse Zurückhaltung entwickelt und war nicht mehr unbedingt der Sunnyboy, zu dem mich meine Klassenlehrerin zu Anfang meiner weiterführenden Schullaufbahn mal erklärt hatte. Inzwischen war die Pubertät in vollem Gange – und in meinem Körper, und mit allem, was sonst noch daran geknüpft war, fühlte ich mich so gar nicht wohl. Hinzu kam, dass meine Klassenkameraden ein gutes Stück älter waren, bereits Parties besuchten und begannen, Alkohol zu trinken.

Ich hingegen war nur einmal, auf dem Abschlussball meines Tanzkurses, reichlich betrunken – und legte genau dann ein Sabbatical in Sachen Alkohol ein, als all meine Klassenkameraden fleißig die örtlichen Parties ansteuerten. Ich blieb zu Haus. Traf mich mit meinem besten Freund aus Kindergartentagen und verbrachte die meiste Zeit vor der Spielekonsole.

Wegen meines dennoch teils extravagantem Kleidungsstils wurde ich oft gehänselt. Ich war inzwischen derjenige, der anders war. Meine damalige Clique hatte langsam aber sicher registriert, dass sich der Lebensstandard meiner Eltern sich hin und wieder von dem der ihren unterschied. Und, wie wir all die Jahre gelernt haben, ist etwas Anderes nicht gut. So war ich nun der „neue Markus“. Letzterer übrigens hatte sich meines Vernehmens nach in seiner neuen Klasse gut eingefunden.

Meine Rolle dagegen veränderte sich: Ich wurde gefeiert, wenn ich samt Tennis-Team die westfälischen Schulmeisterschaften gewann. Im Sport-Unterricht konnte man mich beim Badminton gebrauchen. Für ein geschenktes Brötchen in der Cafeteria war ich der optimale Ansprechpartner. Aber für eine einfache Gruppenarbeit zu Zweit? Weit gefehlt.

Natürlich, es ergab sich nicht die Extremsituation, der wir Markus Jahre zuvor aussetzten. Aber gewisse Parallelen bestehen, und ich möchte nicht leugnen, dass ich nicht ganz unschuldig daran war. Irgendwann begann ich, die mir gemachten Vorwürfe zur Schau zu tragen. Ich fand mich in der Rolle zurecht, anders zu sein. Trug noch extravagantere Kleidung auf, entzog mich vielerlei sozialer Kontakte, fokussierte mich auf meine nie stattfindende Tennis-Karriere und war vielen Lehrern sowie dem Großteil meiner Klasse fremd.

Dankbar bin ich dennoch jenen Freunden, die noch heute aus dieser etwas schweren Zeit übrig sind. Erst kürzlich traf ich mich mit einer treuen Seele, die mir bestätigte, was damals schief lief. Ich war immer ein netter Kerl, man verbrachte gern Zeit mit mir. Aber mein andersartiges Auftreten schreckte wohl den ein oder anderen an sich liebenswerten Charakter ab. Das Kuriose daran: Im Nachhinein bescheinigt man mir ein tatsächlich erhöhtes Selbstbewusstsein – obwohl eher das Gegenteil der Fall war. Ich verkleidete mich zum Teil als Jemand, der mit meiner Rolle besser umgehen konnte. Und von außen wurde ich als genau dieser Jemand identifiziert.

Es gäbe noch zahlreiche Beispiele, die die Grausamkeit und Verzweiflung pubertierender Jungs angemessen darstellen. Etwa meine exakt drei Monate an der Schule verweilende Englisch-Lehrerin im Vertiefungskurs – die einzig und allein aufgrund unserer sozial zweifelhaften Glanzleistung als Klasse die Schule verließ. Oder die Geschichte der weinenden Kunstlehrerin, die aufgrund ihres neuen Nachnamens gehänselt wurde.

Im Nachhinein kann ich nicht erklären, wie all das zustande kommen konnte. Ich behaupte, ich komme aus einem guten Elternhaus. Meine Eltern brachten mir Werte bei, die ich heute zu schätzen weiß, und erzogen mich zu einem anständigen Menschen.

Doch vor einer gewissen Gruppendynamik, die, ehe man sich versieht, zur vermeintlich nicht hinterfragungswürdigen Eigendynamik gedeihen kann, ist kaum jemand geschützt. So dürfte sich auch ein Großteil der menschlichen Geschichte auf einfachste Weise erklären lassen.

Um hier eine Lösung des Problems zu erzielen, verhält es sich an sich recht einfach: Wir brauchen Eier. Nichts anderes hätte ich damals gebraucht, um mich vor und nicht lachend hinter Markus zu stellen. Weil er ein netter Kerl war und ich das erkannte. Nichts anderes hätte ich gebraucht, um mich nicht verkleiden zu müssen. Nichts anderes hätten wir als Klasse gebraucht, um den Religionslehrer für kurze Zeit seine Ruhe zu lassen.

Man hätte sich selbst zurücknehmen und nur für einen kurzen Moment jemand anders in den Mittelpunkt stellen müssen. Und vielleicht ist es genau das, woran wir gesellschaftlich immer mehr kranken: Jeder möchte im Mittelpunkt stehen. Auf Kosten eines Anderen.

Genau damit sollten wir schnellstmöglich aufhören. Im Sinne aller Religionslehrer, aller Anderen und aller, die anders sein möchten.

Toleranz ist das Stichwort. Und Respekt.

Gute alte Werte, die heute sicher einen Hashtag wert wären.

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Über Alex

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Alex Schreiner

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