Mai 21

San Francisco im Sommer (#2)

Jasmin betritt das Haus. Sie hastet die Treppe hinauf und wirft ihren Rucksack auf das Sofa. Ich wende meinen Blick vom Fensterglas ab und drehe mich um. Leuchtenden Auges sieht sie mich an. Wir schmunzeln und wissen: Genau jetzt beginnt eine Zeit, an die wir uns ein Leben lang erinnern werden.

Ich öffne meinen Koffer. Die aufgeklappt nebeneinander liegenden, zuvor stundenlang aneinander gepressten Innenseiten kühlen meine Hände, während ich meine Kleidung sortiere. Es dauert nicht lang, bis Millie ihr urpsprüngliches Nest im Wohnzimmer gegen eine der Kofferhälften am Fußende unseres Bettes eintauscht. Schnurrend blickt sie mich an, bis ich sie zu streicheln beginne.

Einige Stunden später sitzen wir im vorderen Teil eines Busses in Richtung Mission District. Busfahren ist hier anders als in Deutschland. Haltestellen sind oft nur durch gelbe Streifen an Straßenlaternen markiert. Haltewünsche äußert man durch ein kurzes Ziehen an einer an allen Fensterflächen montierten Schnur. Ein Mindestkontingent an Plätzen für Senioren und kränkliche Menschen ist stets reserviert.

Auf der anderen Seite des Fensters wird es Nacht. Überraschend lang sprachen wir vor unserer Abfahrt mit José. José ist der Lebensgefährte unserer Vermieterin. Ein netter Mann. Überzeugter Kommunist, nicht allzu groß, handwerklich begabt und von Natur aus fröhlichen Gemüts. Er renovierte das Schlafzimmer neben der zum Atelier umfunktionierten Garage, als wir das Haus betraten – so bemerkte weder er uns, noch wir ihn. Erst auf halber Treppe, kurz vor unserem erste Aufbrechen, trafen wir zufällig aufeinander.

José, von seiner Freundin auch liebevoll Monkey genannt, ist Peruaner. Vor über dreißig Jahren kam er nach San Francisco. „Als die Stadt die Vielfalt nicht nur vortäuschte, sondern sie noch lebte.“ Er fühlt sich wohl in Kalifornien. Schätzt die Menschen, mit denen er zusammenlebt und seinen Lebensstandard.

In der Vergangenheit hatte er häufig mit familiärer Armut und schwierigen Lebensverhältnissen zu kämpfen. Obwohl er in Peru Religion und Geschichte studierte, wurde keiner seiner Studienabschlüsse in den USA anerkannt. „Südamerikaner haben selbst in Kalifornien einen immer schwereren Stand“, verriet er uns in einem Halbsatz. Es sei nicht mehr der Ort, für den man ihn hielte. Nur, wenn man genügend Geld mitbrachte – dann vielleicht.

Doch mit ein bisschen Phantasie, das ließ er gern durchblitzen, kann sich dennoch jeder seinen kleinen kalifornischen Traum erfüllen. „Zumindest in den eigenen vier Wänden – so teuer Letztere auch sein mögen.“ Und wer Monkey während dieser Sätze auf der obersten Treppenstufe stehen sähe, seinen Kittel voller Farbspritzer, die Pinsel in der Hosentasche und drei kleine Farbeimer in der linken Hand, der würde verstehen, was das kalifornische Lebensgefühl tatsächlich ausmacht: Ein fröhlicher Geist, der sich von äußerlichen Umständen nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Umso passender, dass auch Jasmin und mir gleich am ersten Abend ein Dinner serviert wurde, das sich ganz offensichtlich von unserer Bestellung unterschied. Und das sich doch als die wohl schmackhafteste Kombination entpuppte, die uns auf der gesamten Reise begegnen würde.

Schließlich vermissen wir die Thousand Islands Wedges noch heute. Wie so Einiges, das uns im Laufe der Reise widerfahren würde.

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Über Alex

World-Traveller & grenzenloser Optimist.
- "Finde dein Glück in der Vielfalt der Welt."

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