[verfasst am 23.06.21]
In Lethmathe teilen sich die Züge. Das weiß ich von meinem Opa. Vielleicht habe ich es auch falsch in Erinnerung. An den Moment jedoch, in dem er mich auf meine erste alleinige Zugfahrt vorbereitete, erinnere ich mich, als sei es gestern.
Wir saßen am Küchentisch. Die Landkarte ausgebreitet, mein Bahnticket ausgedruckt auf dem Tisch. Mit leicht gekrümmten und steifen Fingern fuhr er über die Karte, folgte den eingezeichneten Zugstrecken und stoppte bei Lethmathe. Mit dem Zeigefinger tippte er zweimal auf den Ortskern. „Hier musst du aufpassen, hörst du? Sonst fährst du weiter in die falsche Richtung. Da teilen sie die Züge. Du musst in Wagon Eins, nicht in Zwei. Pass ja auf.“ Er murmelt ein leises wie zweifelndes „Ja, Junge“ hinterher, das mich unterbewusst anstachelt, es erst recht hinzubekommen.
Ich bin noch heute dankbar für diese schönen Momente. Und, wie das immer so ist, mit den schönen Momenten, vergingen sie viel zu schnell.
Mein Opa starb, als ich sechzehn war. Dass er gestorben ist, verstand ich später. Wie er gestorben ist, hörte ich von Dritten. Dass er nie ganz fort ist, lerne ich heute.
Und dass Familie nie endet, verstehe ich erst langsam. Dass ich noch einmal den Begriff Opa verwenden darf, hätte ich mir nie träumen lassen. Dass ich noch einmal so gern Kind wäre, war mir nie so klar wie heute.