Und irgendwann bin ich tot.

Great Ocean Road. Cape Reinga. Hollywood Studios. Cliffs of Moher. Königspalast. Sissi-Schloss. Tempel des liegenden Buddhas. Opera Sydney. Englischer Garten.
Highlight über Highlight über Highlight. Wie im Inhaltsverzeichnis eines Reisekatalogs für Pauschalreisen. Doch viel mehr war das gerade einmal das Best Of der erwartungsvollsten Orte unserer bisherigen Reise. Innerhalb eines Dreivierteljahres.

Die Zeit vergeht unheimlich schnell. Und was heute aktuell ist, ist morgen schon wieder vergessen. Wir ähneln einem Wimpernschlag im Angesicht der universellen Zeit – und doch halten wir uns für so bedeutend. Wir halten uns für unsterblich und leben nach genau diesem Motto. Unsterblich sein. Sich nicht vorstellen können, dass es einmal aus ist. Sich nicht vorstellen können, dass alles einmal ein Ende hat. Wie sollte das auch gehen? Ich bin doch gerade hier. Hier, in diesem Moment.

Auch, wenn ich das eigentlich nicht bin. Ich bin nicht in diesem Moment. Eigentlich bin ich ganz woanders. Mit meinen Gedanken in der Zukunft. An einmaligen Orten, an denen die Wellen so türkis schimmern wie im Instagram-Filter. An einem Ort, an dem ich nicht arbeiten oder für mein Geld schuften muss. Aber diese Welt gibt es nicht. Glaube ich.

Doch wenn es diese Welt nicht gibt, in welchem Moment lebe ich dann? Nicht hier, nicht in der Zukunft. In einer Phantasiewelt? Ich höre so oft, dass alles, was man sich vorstellen kann, auch real zu existieren vermag. Aber wie? Ist das nicht unheimlich schwer?

Eigentlich nicht. Denn wenn ich mein Leben lang nur von einer Zukunft träume, muss ich in diesem Traum doch immer älter werden, oder? Und irgendwann würde ich feststellen, dass ich … zu alt bin. Nicht tot. Denn tot sind wir nie. Irgendwie. Wir sagen das zwar mal aus Jux. Aber eigentlich sind wir nie tot. Und wenn doch, dann sind alle erstaunt. Schließlich hatten wir noch so viel vor. So viele Pläne und Träume. Klar, die sind mit uns alt geworden. Aber wer rastet, rostet nicht. Oder? Vielleicht doch?

Vielleicht ist ja dieser Moment gerade der absolute Traum eines anderen Menschen. Und ich verschwende ihn. Weil ich ihn nicht zu schätzen weiß. Weil ich überhaupt nichts zu schätzen weiß. Zu schätzen weiß ich, was schneller, höher, weiter ist. Schließlich sagt das jeder: Leben heißt Bewegung. Und aus dem Geschäft weiß ich, dass ich mich nur nach vorn bewegen darf. Stillstand ist Rückschritt. Stillstand darf nicht sein. Und deshalb stelle ich mir einfach die Zukunft vor. So stehe ich vielleicht still, aber kann jedem von meinen Plänen und Zielen erzählen. Denn das ist es ja ohnehin, was wir alle brauchen. Ziele. Konkrete Pläne. Oder? Doch, ganz bestimmt. Wer braucht schon eine Vision? Das ist zu unkonkret. Und vielleicht Größen wie Steve Jobs vorenthalten. Echte Menschen haben echte Ziele und die sind erreichbar. Visionen habe ich zwar auch. Aber das sind meine. Die verrate ich niemandem. Außer ich tanze einmal aus der Reihe. Aber das passiert mir ohnehin nur auf Motivationsseminaren. Dann, wenn alle so drauf sind. Da kann ich das auch. Denn dann bin ich ja wieder wie alle. Da mache ich keinen Unterschied. Da falle ich nicht auf – und kann einmal meine Träume aussprechen, ohne dass mich jemand auslacht.

Denn eigentlich will ich ja dazugehören. In diese Runde. In diese Runde, in der wir erst zehn Bier in uns hinein gießen und dann zur Münchner Freiheit schreien, dass man Träume doch noch leben kann.

Und das kann ich auch. Ja, das kann ich! In diesem Moment. In dieser Nacht.

Zumindest solange der Alkohol wirkt. Bei mir. Und bei den Anderen. Die müssen auch mitmachen. Sonst macht es keinen Sinn. Sonst wäre ich wieder allein. Und außen vor. Anders. Fernab meiner Herde. Meiner Freunde. Und dich brauche ich, meine Freunde. Ich identifiziere mich über meine Freunde. Wer keine Freunde hat, dem fehlt was.

Und selbst, wenn es falsche Freunde sind. Ich habe sie auf Facebook. Auf WhatsApp. Und manchmal, wenn niemand hinsieht, klicken sie auch auf ‚Gefällt mir‘, wenn ich auf Facebook mein Profilbild wechsle. Aber das passiert dann auch nachts. Dann, wenn niemand hinsieht.

Am Morgen sind wir wieder alle gleich. Alle laufen wir denselben Trott, verhätscheln und ärgern uns am Arbeitsplatz, gehen gemeinsam ein Stück totes Tier essen, wovon wir gar nicht mehr wissen, dass es einmal gelebt hat. Einfach, weil es doch nur Fleisch ist. Und alles andere verdrängen wir. Es geht schließlich um’s beieinander sein. Nicht um das Tier. Wir wollen schließlich den Moment genießen. Anders als sonst. Sonst können wir das nicht. Aber jetzt wollen wir das.

Denn wir können uns die Welt einfach so drehen, wie sie uns gerade passt. Den Moment genießen – oder es sein lassen. Totes Tier essen – oder es zum Objekt erklären. Uns die Birne wegschießen – oder es gemeinsames Feiern nennen.

Nur eins bleibt immer gleich. Wir können unsere Träume leben. Dann, wenn wir wirklich wir selbst sind. Und das kommt manchmal durch. Dann, wenn wir betrunken sind. Dann schunkeln wir. Und würden unserem Nächsten gern unsere Gefühle ausdrücken. Die Gefühle, die wir sonst niemals aussprechen würden und stets verheimlichen müssen. Immerhin zeigt ein Mann keine Gefühle. Eine Frau vielleicht. Aber bei ihr verwischt der Eyeliner zu schnell. Also schluchzen Frauen nur. Oder gehen früher ins Bett. Und wir bleiben wach – und leben den Moment. Denn dazu ist das Leben ja da.

Vielleicht wissen wir nicht, was es wirklich heißt einen Moment zu genießen. Weil wir nicht still sitzen geschweige denn unser Handy nicht einmal liegen lassen können. Aber das macht nichts. Denn das ist heute allgemein bekannt. Und gehört schon dazu. Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich eher ein Handy nutzen oder Sex haben würde. Ich würde mich für den Sex entscheiden. Also glaube ich. Zumindest weiß ich, dass die Antwort richtig ist. Und dass ich sie sagen sollte.

Aber mich fragt niemand danach. Mich fragt ohnehin niemand nach irgendetwas. Weil wir viel zu beschäftigt sind mit unserer Zukunft. Mit Planungen, Zielen – und wenn niemand hinsieht mit unseren Visionen. Doch die setzen wir niemals um. Denn das kann peinlich sein. Und Schwäche zeige ich nicht. Warum auch – ich bin ein Alpha-Tier und will viel erreichen. So viel wie möglich. Meinen Papa beeindrucken, in seine Fußstapfen treten und meine Mama stolz machen. Zeigen, dass aus ihrem Sohn etwas wird. Mehr als aus ihr, ihren Geschwistern oder anderen Söhnen von anderen Müttern. Ich bin das Ultimum. Das Absolute. Der Wichtigste, der Schönste und der Schnellste. Der Intelligenteste, der Schlagfertigste und überhaupt kleidet mich jeder Superlativ, der mir zu Tage in den Sinn kommt.

Nur irgendwann. Das weiß ich schon. Da bin ich alt. Mit meiner Vision. Noch immer schwanger. Aber das sage ich keinem. Es ist wie ein uneheliches Kind, das niemand kennen darf. Denn Visionen sind Träume. Und Träume sind Schäume. Und deshalb lebe ich sie nicht, genieße niemals den Moment und traure auch nichts nach, weil ich nichts genieße. Ich lebe schnell. Ich lebe hoch. Ich kenne Gott und die Welt. Ich bin das Ultimum.

Und irgendwann

bin ich tot.

Autor: Alex Schreiner

World-Traveller & grenzenloser Optimist. - "Finde dein Glück in der Vielfalt der Welt."

Ein Gedanke zu „Und irgendwann bin ich tot.“

  1. Deine philosophischen Überlegungen bringen mich immer mehr zum Erstaunen.
    Nicht, dass ich sie nicht teilen würde, nein ganz im Gegenteil.
    Nur hätte ich sie nie so in Worte fassen können.
    Vielleicht hätte ich mich auch gar nicht getraut einiges so zu formulieren, selbst wenn es unter einem „lyrisches ich“ geschrieben wurde.
    Danke für die Eindrücke.

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