Ist der Mensch ein Stück Natur?

„Der Mensch gehört ebenso zur Natur, wie die Tiere und alles Leben auf der Welt.“ Schöne Worte, die ich vor einigen Wochen las. Wo genau das war, weiß ich nicht mehr. Doch sie regten an. Zum Nachdenken. Und zum Tiefergehen.

Theoretisch klingt’s logisch, geradezu verständlich: Der Mensch entwickelte sich im Laufe der Jahre zu dem, was er heute ist. Und dachte man nicht genauer darüber nach, könnte es gar in Fleisch und Blut übergehen: Der Mensch, und damit alles, was er tut, denkt, entwickelt und zerstört, passiert auf natürliche Weise. Er ist geradezu natürlich.

Dennoch bin ich überzeugt, dass es einen Gegenpol zur Natur geben muss. Etwas, das die Kehrseite der Medaille darstellt, wenn man so will. So wie es zu heiß ein kalt gibt, zu oben ein unten – so muss es einen passenden Gegensatz zur Natur oder dem Natürlichen geben. Oder etwa nicht?

Doch würde sich dieser auf natürliche Weise entwickeln, wenn man den Menschen außen vor ließe? Würde ein anders geartetes Lebewesen jenes Gegenstück zu „Mutter Natur“ produzieren oder gäbe es, ohne menschliches Zutun, keines, sodass lediglich eine allgegenwärtige natürliche Form existierte?

Spontan darüber nachgedacht, würde ich behaupten: Mit Ausnahme des Menschen ist bis heute nichts Kontraproduktives für jene Natur entstanden, die sie ohne Zutun des Menschen wäre.

Doch nun sind wir nun einmal da – und benötigen in unserer heutigen Welt all das, was nicht herkömmlich, nicht gottgegeben ist, um zu leben. Ja, inzwischen sogar, um zu überleben.

Dennoch, so vermute ich, hätte vieles dessen, was wir als künstlich und unnatürlich ins Leben riefen, nicht sein müssen. Im Umkehrschluss hätten wir uns natürliche Lebensformen noch erhalten und eine gesündere Umwelt erschaffen können.

Doch wir entschieden uns dagegen – und zwar nicht bloß Einzelne, sondern alle Mann. Wir produzieren jährlich neue Smartphone-Generationen, die abgesehen von ihrem minimal veränderten Gehäuse nichts weiter können, als ihr Vorgänger. Ebendies Vorgehen wählen wir bei der Produktion von Automobilen, Haushaltsgeräten, verschiedenster Elektronik und bei überhaupt allen Konsumgütern jeder Art.

Und, obwohl wir sie nicht benötigten, füllen wir damit Wunschzettel, Einkaufskörbe und unsere heimlichsten Träume, um ein wenig mehr Freude zu empfinden, die spätestens nach drei Jahren, tendenziell früher, schwindet, da das Gerät, passend zur Neueinführung des Nachfolgemodells, zufälligerweise den Geist aufgibt.

Wir entwenden somit Ressourcen unseres Heimatplaneten für dumb shit, wie man im Englischen frotzeln würde. Unwiederbringliche Ressourcen für Dinge, die nach drei Jahren nur mit größtem Aufwand entsorgt werden können.

Das ist nicht natürlich. Das ist das absolute Gegenteil.

Beispiele dieser Art gibt es genügend. Wir plündern quasi das Schiff, das uns über’s Wasser trägt, und werfen unsere Beute über Bord. Wir legen ein Feuer in den Keller unseres Hauses und bauen anschließend einfach Stockwerk um Stockwerk, um den Flammen zu entkommen – statt das Feuer selbst zu löschen. Wir denken ganz offenbar nicht nach.

Oder: Wir denken nach, doch der Schmerz, zurückzurudern, uns unsere Fehler einzugestehen und tiefgreifende Veränderungen zu bewirken säße zu tief.

Die größte Ironie liegt jedoch in unserem Selbstbild, das sich mit nichts, aber auch mit gar nichts dessen deckt, was wir als unser Werk ansehen dürfen: Wir definieren uns über unsere Intelligenz. Darüber, dass wir nicht tierischen Trieben und Instinkten nachgeben müssen – sondern vermeintlich rational denken und handeln können. Nicht zuletzt deshalb sehen wir uns auch, wie gewohnt, über den Tieren. Und über der Natur ohnehin.

Wenn man sich unser Handeln allerdings so ansieht, könnte man meinen, es sei weniger unser Hirn, sondern mehr das Glück, zufällig über einen opponierbaren Daumen zu verfügen, der unser aktuelles Handeln ermöglicht.

Denn jegliche Sinne scheinen wir verloren zu haben. Sinne, die uns einst das Überleben in dieser Welt ermöglichten. Wir haben sie heute jedoch schlicht verrotten lassen – und uns im Gegenzug eine Welt gebastelt, die uns zwar zu Füßen liegt, aber in dieser Haltung nur verkümmern kann.

Nehmen wir uns wieder das Beispiel des Schiffes zur Hand, wird außerdem klar: Wir sitzen nicht allein als „Gattung Mensch“ darauf. Allerlei andere Lebewesen, die wir als niederträchtig ansehen, sitzen zu unserer Linken und Rechten.

Versenken wir unser Schiff, versenken wir sie gleich mit. Glücklicherweise töten wir sie zuvor aber ohnehin schon ganz freiwillig, sodass die wenigsten den letztlichen Untergang ihrer Natur und Gattung miterleben würden.

Wir dagegen erleben das volle Programm: Die Vernichtung der Natur, das Ableben unserer menschlichen Gattung und die Zerstörung der uns ursprünglich so wohlgesinnten Flora und Fauna.

Verdient, würde ich sagen. Und unabdingbar, sofern wir nicht langsam – oder doch besser schnell – lernen, umzudenken und das Ruder herumreißen.

Denn so, wie wir uns zur Zeit verhalten, entfremden wir uns mehr und mehr von dem, was wir als Natur bezeichnen, wahrnehmen und bewundern. Wir mutieren zum klaren Gegenspieler genau jenes Planeten, der uns so offensichtlich seit Jahrtausenden ein Zuhause bietet.

Aber vielleicht, und das wäre die einzige akzeptable Erklärung, sind wir auch einfach nur heilungslos schizophren.

Dann könnten wir wenigstens nichts dafür.

A Quiet Revolution

Wir alle erfahren neue Impulse in unserem Leben. Tagtäglich. Unsere moderne Lebensweise könnte gar nicht funktionieren, wäre das nicht der Fall. Neues, Fremdes, Unbekanntes – wohl zu keiner Zeit wie der heutigen waren jene Variablen so intensiv spürbar.

Bloß entscheiden wir, bewusst oder unbewusst, ob und wie wir damit umgehen. Wir können Dinge ignorieren, sie mit einem kleinen „Brauche ich nicht, war nie so“-Kärtchen versehen, sie ins Lächerliche ziehen, sie verdammen, als „unwahr“ abstempeln, wie nicht existent behandeln – oder über sie nachdenken, ihnen die Hand reichen und eine Chance geben, einen positiven Unterschied zu machen.

Das gilt für alles. Ja, richtig gelesen: Für alles. Völlig egal, in welchem Lebensbereich – neue Dinge, Situationen und Lebenswege können immer etwas Unerwartetes, Schönes oder Beeindruckendes enthalten. Man müsste sich bloß dafür öffnen können.

Genau daran scheitern wir heutzutage bloß allzu häufig. Nicht, dass wir uns ernsthaft um eine Ablehnung neuer Impulse und Gegebenheiten bemühten. Wir denken, sprechen und handeln eher symbolisch.

Das wohl bekannteste Beispiel: Die US-amerikanische Mauer an der mexikanischen Grenze. Nicht, dass diese Mauer einen Effekt haben könnte. Die meisten Immigranten kommen, statistisch nachweisbar, nicht zu Fuß samt Bollerwagen in die Staaten. Sondern via Flugzeug oder über den Wasserweg. Dennoch atmet eine Vielzahl an US-Bürgern auf. Denn wo eine Mauer ist, kann kein Weg sein. Wille hin oder her.

So simpel kann es sein, Menschen von dem „Neuen“, in diesem Fall der vermeintlich „kriminellen“ Immigranten, zu befreien – obwohl sie von ihrer vermeintlichen Last gar nicht „befreit“ sind.

(Anm. d. Autors: Was auch absolut unsinnig wäre – ich halt’s da eher mit der menschlichen Toleranz samt Vielfalt und weniger mit Landesgrenzen.)

Auch ein schönes Beispiel: Das weit verbreitete Tierwohl-, „Milch von glücklichen Kühen“- oder ähnliche bemitleidenswerte Labels, die uns suggerieren, mit unserer Welt war zwar kurz etwas im Ungleichgewicht. Das haben wir aber glücklicherweise durch einige kraftvollen Initiativen wieder bewerkstelligt. Es braucht also nichts „Neues“ wie vegane Ernährung, Milchalternativen und Co., um wirklich etwas zu bewirken. Lebt weiter wie bisher – alles bestens.

Unsere Kühe lächeln seit Neuestem, wenn man sie von ihren Kindern trennt und drücken die Milch freiwillig in die Flasche. Frau Klöckner hat das wirklich im Griff.

Und dennoch wächst das vegane Angebot in Städten ins Unermessliche, die Rügenwalder Mühle kommt vor lauter pflanzlichen Schnitzeln kaum noch hinterher und immer mehr ältere Menschen erkranken an Krebs – was oftmals auf tierbasierte Ernährung zurückzuführen ist.

Doch das Neue ist dennoch weit weg – brauchen wir nicht, oder?

Es mag ein Generationenkonflikt sein, doch in meinem persönlichen Freundeskreis kenne ich absolut niemanden, der andere oder neuartige Lebens- sowie Denkweisen verurteilt. Ich habe den Eindruck, das Motto „Leben und Leben lassen“ gewinnt an Befürwortern. Und erweitert das Blickfeld.

Das mag jedoch auch mit dem zuammenhängen, dem wir uns tagtäglich aussetzen – oder ausgesetzt sind. Erst kürzlich stolperte ich über eine TV-Werbung samt Claim „Butter ist gesund“. Und „Essen Sie mehr Zucker, wenn Sie abnehmen möchten“. Auch „Mit Maggi schmeckt Ihr Lieblingsessen noch mehr nach Ihrem Lieblingsessen“ war werbetechnisch nicht von schlechten Eltern.

Damals wie heute: Je öfter wir etwas hören, desto leichter und schneller glauben wir es. Und so wurde Butter gesund, so machte Milch starke Knochen und so mussten Einwanderer in Deutschland vor laufenden TV-Kameras den Satz „Ich bin fremd in diesem Land“ auswendig lernen, um der deutschen Sprache mächtig zu werden.

Von all diesen Paradoxa zehrt ein Großteil der heutigen Gesellschaft noch immer. Da ist es doch kein Wunder, dass „Neues“ wie fremde Kulturen, alternative Ernährungsweisen und andere Lebensentwürfe bestmöglich abgeschmettert werden, oder?

Wir leben im Grunde zwischen Relikten alter Tage – auch industriell. Oder würde heute noch wirklich jemand auf die Idee kommen und sich selbst sagen: „Ich glaube, es könnte eine prima Geschäftsidee sein, wenn wir jährlich über 100 Millionen Schweine schlachten und das Fleisch so billig und krankheitsfördernd wie möglich verkaufen?“ Wohl kaum.

Weil wir aufgeklärter sind denn je. Wir wissen so vieles – und handeln dagegen. Wir sind auf dem Papier so intelligent wie nie zuvor – und benehmen uns idiotischer denn je.

Wir wissen so viel über unsere kulturelle Vielfalt – und bekriegen dennoch das „Fremde“. Wir wissen inzwischen, dass sämtliche Ressourcen erschöpfbar sind – und handeln dennoch getreu dem Motto „höher, schneller, weiter“.

Doch für all das gibt es eine hinlängliche Erklärung, die wir unter dem Begriff „Gewohnheit“ benennen und verteidigen. Gelegentlich fallen auch Begriffe wie Tradition ins Gewicht.

Doch was wäre, wenn wir mit Traditionen gar nicht brechen und Gewohnheiten nicht abgelegt werden müssten?

Diese Frage stellt sich im Grunde nicht mehr, da genau das passiert: Viele „Ausländer“ sprechen besser Deutsch als halb Neukölln, vegane Schnitzel schmecken fleischiger als das „Wiener Original“ und selbst auf traditionellen Feierlichkeiten wie beim Oktoberfest gibt es alkoholfreies Bier, das seinem schlechten Ruf in keinster Weise gerecht wird.

Und das Beste daran ist: Wir bemerken diese Veränderung wenig bis gar nicht.

Wenn wir beispielsweise beruflich tagelang mit einem Herrn Meier telefonieren und beim ersten persönlichen Treffen feststellen: „Upps, der ist ja schwarz“ – da wird es schwierig, das „Fremde“ noch von sich zu weisen und zu verurteilen.

Wenn uns zum dritten Mal ein veganer Burger untergeschoben wird und wir nochmal das saftige Fleisch loben, das ja viel besser sei als die pflanzlichen Alternativen – welche Argumentation bleibt da noch für das „Alte“?

Wenn wir bemerken, dass der alkoholfreie Sekt plötzlich besser schmeckt, als der „Normale“ – wie ist die schädlichere Variante dann noch zu verteidigen?

Es gibt schlichtweg kein rational begründbares Zurück. Denn das, was neu, nachhaltig und sinnvoll wie genießbar auf allen Ebenen daherkommt, ist schwerlichst zu verurteilen.

Letzteres gelingt höchstens mit der Argumentation der Gewohnheit.

Doch dann müssen wir uns ehrlich der Frage stellen:

Sind wir wirklich die fortschrittliche Gesellschaft, die wir zu glauben scheinen, wenn wir einem „Weiter so“ folgen, statt neue und bessere Wege einzuschlagen?

Tick-Tack

Man sagt, Zeit sei unser kostbarstes Gut. Man könne alles wieder gewinnen, zurückholen, erneut erobern und wiederbeleben – mit Ausnahme der eigenen Lebenszeit. Man möge voller Obacht mit jener selt’nen Ressource umgehen. Sparsam sein, bewusst handeln, sie nicht vergeuden. Zeit verginge und käme nie wieder.

Dabei verschlingt allein das moralgeladene Reden über Zeit und ihre Vergänglichkeit schon massenweise davon. Ähnlich wie eine zur Hälfte gefüllte Spülmaschine, verschlingt das stetige Nachdenken, Grübeln und Planen mehr Zeit, als es in der metaphorischen Spülmaschine Wasser bräuchte.

Wir benehmen uns wie Zeitphilosophen. Noch besser: Zeitpolitiker. Schwingen Reden über die Relevanz des Auskostens der Zeit, die bleibt – und lassen unseren Worten keine Taten folgen.

Nein, im Gegenteil: Hin und wieder verschwenden wir nicht bloß Zeit. Wir verschenken sie. Nicht etwa zum Vorteil eines geliebten Menschen. Nicht etwa, um jemanden aus der Patsche zu helfen oder anderen edlen Motiven folgend. Sondern, um unser Leben zu verkürzen. Wir geben Zeit zurück. Als würden wir von einer lebenslangen Ration Nahrung stetig Abstand nehmen. Oder wegwerfen.

Pure Paradoxie, teilen und stehlen wir einander doch allzu gern zeitverschenkende Lebenszeit. Es ist also eine recht komplexe Rechnung, wenngleich das Ergebnis nie positiv ausfallen kann. Gemessen an der Aussage, gemeinsam erlebtes Glück sei das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt, stellt sich die Frage:

Was wäre, wenn geteilte Glücksmomente zwar das Lebensglück verdoppeln und die Zeit unendlich scheinen lässt, Letztere durch die zusätzliche Intensivierung von künstlich herbeigeführten Stoffen tatsächlich aber verkürzt?

Die gemeinsame Pausen-Zigarette beispielsweise, eine freundschaftlich gedampfte Wasserpfeife oder der kleine Joint unter Freunden. Was wäre, wenn diese Momente voller geteiltem Lebensglück lediglich Wölfe im Schafspelz wären? Und den leidvollen Moment des Abschieds schlicht näher rücken ließen, als er zuvor schien?

Das geteilte Glück verdoppelte sich nach wie vor. Doch die gemeinsam verlebte Zeit verginge schneller. Wenn man also vermeintlich intensiveres Glück erlebte, dafür aber weniger dieser Momente leben könnte – wie sinnvoll wäre diese Rechnung?

Wenn man diese eine Reise des Lebens antreten würde, ohne aber zu Lebzeiten das Klima zu schützen und es bei dieser einen Reise bliebe – wie wertvoll wäre dieses Erlebnis tatsächlich?

Wenn man abendlicher Thekenphilosophie folgend stets über sein Leben samt zeitlicher Begrenzung nachdachte, ohne zu handeln: Wie wenig Zeit bliebe übrig, um ein etwaiges Ergebnis der philosophischen Anstrengungen noch umzusetzen?

Wenn man jegliches Wissen über menschliche Gesundheit und Fitness sammelte, es jedoch nicht anwandte – wie wertvoll kann dieses Wissen sein?

Der Mensch gilt als komplexes Wesen. Obwohl der Begriff ‚dumm‘ ebenso passend wäre. Schließlich lässt sich das Verhalten unserer Spezies mit einem simplen, aber einprägsamen Bildnis beschreiben: Der Mensch sägt an dem Stuhl, auf dem er sitzt.

Und das nicht nur an einem Bein, sondern gleich an allen vieren. Voller Leidenschaft, voller Inbrunst, samt Lächeln auf den Lippen.

Wir verschwenden unsere Lebenszeit, verkürzen sie sogar regelmäßig. Nur, um später von geliebten Menschen vermisst zu werden. Wir verschmutzen unseren Planeten, misshandeln ihn gar konsequent. Nur, um das eigene „Lebensglück“, den eigenen Komfort, ja: die eigene Bequemlichkeit auf die Spitze zu treiben. Wir sind so diplomatisch verkorkst, um über alles reden, nicht aber handeln zu können.

Ich glaube, inzwischen liegt es an der jüngeren Generation, Lösungen zu finden. Neue Wege zu gehen. Zu beweisen, dass lösungsorientierter Umweltschutz kein Trend ist. Dass ‚beyond‘ mit ‚jenseits von‚ übersetzt wird und für mehr als ein Umdenken steht. Dass Zeit gelebt werden kann, ohne sie zeitgleich zu beschneiden. Dass Toleranz nicht mehr nur das bloße Dulden meint, sondern das Einbinden und Anpassen. Dass Kultur nicht an Ländergrenzen endet, sondern uns alle meint.

Und dass Imagine nicht nur eine friedvolle Utopie innewohnt, sondern eine Aufforderung zu Handeln.

Bevor es zu spät ist. Denn Zeit ist ein knappes Gut.

Kleine Dinge und ein 15-Jähriger

Ich muss etwa 15 Jahre jung gewesen sein, als sich die Situation zutrug. Gemeinsam mit zahlreichen Anwälten, Marketing-Experten und namhaften Geschäftsführern saß ich in einer offenen Runde. Thema: Budgetaufteilung für künftige Investitionen. Es versteht sich, dass das Thema nur fiktiv und zu Darstellungszwecken abgehandelt wurde. Jeder Teilnehmer erhielt seine Rolle. Der Eine setzte sich für dieses ein, der Andere für jenes. Wie es das Schicksal so wollte, wurde mir die Rolle desjenigen zuteil, der sich um Umwelt und die sogenannten „kleinen Dinge“ kümmern durfte. Sich starkmachen sollte. Mit zarten 15 Jahren.

Selbstredend steckte ich in diesem Alter in der Hochphase meiner Pubertät und hatte weitaus andere Sorgen als abstruse fiktive Investitionen durchzudiskutieren, um mein vermeintliches Verhandlungsgeschick zu stärken. Allerdings ließ ich das nicht durchblicken. Ich war cool. Geradezu emotionslos, wenn es um meine Außendarstellung ging.

Fünfzehn Minuten waren jedem Teilnehmer zur Vorbereitung vergönnt. Um seine Argumente zu strukturieren, und seine Taktik vorzubereiten. Um den jeweils Anderen aus dem Rennen zu werfen.

Und ich, ich war in der Zeit mit nichts Anderem beschäftigt, als meiner Nervosität Einhalt zu gebieten. Während sich jeder sorgsam seine Notizen zurechtlegte, Plädoyers probte und auf dem Flur auf und ab tigerte, schloss ich mich auf der Herrentoilette ein. Natürlich erzählte ich das niemandem. Offiziell war ich spazieren, um mich vorzubereiten. Und in Wahrheit rutschte ich auf dem Klodeckel langsam von links nach rechts.

Es half alles nichts. Nach fünfzehn Minuten intensiver Nervositätsbekämpfung fand ich mich wie festgekettet auf dem mir zugeschriebenen Bürostuhl wieder. Zwischen hoch gewachsenen Amtsträgern. Und trug notgedrungen Argumente vor. Nicht, dass ich mir Gedanken gemacht hätte. Ich zittere noch heute, wenn ich an diese Momente denke. So nervös war ich. So unsicher in mir selbst. So unwohl fühlte ich mich in meiner Haut.

Und dann war ich dran. Meine Zeit war gekommen. Ich zahnte mich ins laufende Gespräch ein und faselte etwas von den kleinen Dingen des Lebens, die man beachten müsse. Berichtete, dass jene Dinge doch genau das seien, was das Leben erst ausmachen. Und ich war stolz. Wirklich, ich fand mich gut.

Für etwa drei Sekunden. „Kleine Dinge brauchen nur kleines Geld. Mein Standpunkt hingegen…“ Ich war wie gelähmt. Meine Blase geplatzt. Im freien Fall. Ich fühlte mich angegriffen und doch lachte ich mit der Gruppe. Über mein eigenes Argument und über mich. Notgedrungen. Um dazuzugehören. Obwohl ich nicht einmal wusste, wozu überhaupt.

Heute denke ich anders darüber. Muss fast schmunzeln, wenn ich an diese Runde umkoordinierter Schwanzvergleiche denke. Und mittendrin ein Fünfzehnjähriger, der aus Versehen dort hinein schlingert. Jenseits von gut und böse einfach einen Standpunkt vorträgt, dem ich heute näher bin als je zuvor. Dem ich damals vielleicht nicht einmal gewachsen war.

Der eigentlich tragische Punkt an dieser Geschichte ist jedoch nicht mein fast grenzenloses Selbstmitleid mit meinem 15-jährigen Ich.

Die eigentliche Tragik liegt in der Tatsache, dass wir alle wissen, dass meine Rolle die einzig wahren Standpunkte vortrug – und doch vollends niedergemacht wurde. Aufgrund des jeweils größeren Egos, das zu meiner Linken und Rechten saß.

Niemandem ging es um die Argumentation, die Inhalte. Jeder war schlicht der bessere Verhandlungspartner als der Nächste. Jetzt könnte man meinen, das sei ja auch normal für das Erproben des eigenen Verhandlungsgeschicks. Ja, dem würde ich gar mit einem Nicken begegnen.

Interessant wurde es jedoch, als sich jeder für sich ganz schleichend mit seiner Argumentation einverstanden erklärte und vollends darin aufging. Es ging nicht mehr um Verhandlung. Es ging um das eigene Ego. Wer gewinnt? Wer ist besser? Wer ist der Größte? Selbstdarstellung par excellence. Inhalte wurden nebensächlich. Wichtig ist, wer gewinnt. Nicht was oder womit er es tut.

Und die großen Fragen blieben unbeantwortet.

Ähnliches beobachte ich auch heute, mehr als sieben Jahre später. Wenn es doch offensichtlich die kleinen Dinge sind, die uns zufriedenstellen – wieso jagen wir den ganz großen Dingen nach? Verstecken unsere Gier hinter Worten wie „Ich werde dies oder jenes damit besser machen“? Präsentieren uns als Problemlöser, während wir doch nur dem großen Geld nachjagen?

Warum öffnen wir uns nicht, legen Egos beiseite und kümmern uns um unsere kleinen Dinge. Denn würden wir das tun, so jeder für sich, und niemanden im Außen attackieren, um sich selbst besser darzustellen… Dann wäre wirklich jedem geholfen. Im Großen wie im Kleinen.

Und jeder 15-Jährige würde die Welt verstehen, in der die Großen leben.

Welt verändern, haha.

Ich habe das Gefühl, nur ganz kurz hier zu sein. Morgen schon wieder an einem anderen Ort. In einer anderen Welt. Vielleicht sogar auf einem anderen Planeten. In einem anderen Leben. In einem anderen Körper.

Mit morgen meine ich selbstredend nicht den morgigen Tag per se – sondern das, was wir als Reinkarnation bezeichnen, als Leben nach dem Tod sehen, als das, was wir nicht kennen betiteln und behandeln, als gäbe es da auch nichts.

Doch ganz tief drinnen – das verrät jeder in innigen Momenten – hoffen wir, dass es weitergeht. Zur Not auch als Ameise. Hauptsache Leben.

Wir dursten geradezu nach diesem Ding, was sich Leben nennt. Wir können nicht ohne und wissen dennoch nicht, was wir mit ihm anstellen. Mit Ausnahme der Kirche versteht sich. Diese ist zwar der festen Überzeugung, jegliche Lehren und Verständnisse gepachtet zu haben, geht am Ende aber dennoch völlig leer aus. So, wie wir alle eben. Die Kirche ist eben doch nur ein Verein. Gegründet von Menschen für Menschen. Oder sollte ich sagen: Gegründet, um Menschen zu kontrollieren?

Ich schweife ab. Der Eindruck, mein eigenes kleines Leben sei nur von kürzester Dauer, weckt eine gewisse Zerrissenheit, ja fast schon eine Schizophrenie in mir. Wenn mein Leben so klein ist, bin ich unbedeutend. Leider hat mein Ego nun aber gelernt, dass es nicht unbedeutend ist. Und wenn doch, dann lass‘ es das um Himmels Willen nicht erfahren. Da ist er übrigens schon wieder, dieser Himmel.

Aber denken wir uns das Ego beiseite. Als würde es nicht existieren. Was es womöglich auch gar nicht tut. Vielleicht haben wir es auch bloß erfunden. Aus Angst vor tatsächlicher Selbstdefinition. „Ich bin…“ – Fügen Sie hier Ihre Meinung zu allerlei Dingen ein und Ihre Selbstdefinition ist abgeschlossen. Damit wäre die Oberfläche glatt gestrichen.

Doch darunter brodelt’s. Weil wir – der Plural ist mir bewusst – ganz tief in unserer (Achtung!) Seele wissen, dass wir nicht wir sondern wir alle sind. Zu kompliziert?

Auf den Punkt gebracht heißt das Folgendes: Wenn ich nur ich wäre, wäre mein Leben äußerst langweilig. Daher projiziere ich mein kleines Selbst auf Andere, sofern es dieses kleine Selbst gibt. Anderen geht es genauso. Nur ist es niemandem bewusst.

Würden wir aber verstehen, dass wir nicht ein unkontrollierbarer Haufen von Milliarden Menschen sind, sondern – und jetzt kommt’s knüppeldick – alle eins sind, wären wir schon einen ganzen Schritt weiter.

Der zuletzt verwendete Plural war übrigens weder bezeichnend für die Menschengruppe allein noch als Plurales Majestatis gedacht. Wir alle umfasst in meinem – Vorsicht, das Ego kommt durch – Weltbild nicht nur Menschen, sondern ebenso Tiere. Ja, liebe Welt, du hast richtig gehört: Menschen und Tiere. Und womöglich noch Pflanzen. Wer weiß. Eigentlich alles, was lebt.

Glücklicherweise denkt aber nicht jeder so, lieber Herr Müller, sonst könnten wir ja kaum noch ein kleines Äffchen in einen kleinen Glaswürfel voller Abgase stecken, ohne gleich Gewissensbisse zu erleiden. Wo kämen wir da nur hin.

Verrückte Welt. Alles eins. Tss. So ein Unfug.

Und tatsächlich ist das nur halbwegs ironisch gemeint. Denn letztlich bin ich nicht Buddha, ein Prophet oder Jesus himself (womöglich auch nur Menschen, autsch!), sondern schlichtweg ein kleiner Mensch mit kürzester Lebensdauer. Oder eben ein Teil eines großen Ganzen.

Aber sollte mein Lebensgefühl mit irgendeiner undefinierbaren universellen Wahrheit übereinstimmen, dann würde ich mir wünschen, dass die Welt sich ein paar Mal um sich selbst dreht und wir künftig an einem moralisch vertretbaren Punkt angelangen, an dem wir keine Äffchen, sondern diejenigen, die solche „Versuche“ für zumutbar halten, in Käfige setzen und eingasen. So schädlich wird es am Ende doch nicht sein, oder? Immerhin sind solche Dieselmotoren doch… Ach ne, sind sie ja nicht.

Neue Idee: Einfach andere Fleischfresser schlachten.

Uff. Vorsicht. Dünnes Eis. Bis gerade war es noch lustig. Geradezu schön mitzulesen, dieser exzentrische Galgenhumor in der Öffentlichkeit. Aber bitte nicht das Fleischthema. Bitte nicht.

Ich mach’s doch. Weil’s gerade so fließt. Und so wünschenswert ist für jene, die jetzt aus dem Text aussteigen würden, aber jetzt aus Trotz dranbleiben. Und gar nicht anders können, als weiterzulesen. Außer die Rebellen. Die haben das Fenster jetzt geschlossen. Oder lesen heimlich weiter. Wenn das Ego schläft. Schon wieder dieses Ego, das Verdammte. Ja, genau! Verdammt sei es! Oder das gibt’s gar nicht. Wer weiß.

Zurück zu den Fleischfressern. Ich persönlich fände es nett, wenn hier und da nicht nur ein Schweinekopf in der Metzger-Theke liegt, sondern auch ein kleines Stück Schädel. Kross angebraten, die Haare (auch Fell genannt) selbstverständlich entfernt. Nur das Schmackhafteste ist noch da. Oder, ganz neu interpretiert: Stopfleber. Daraus könnten wir was machen! Ein Gaumenschmaus.

Etwa nicht? Zu schade. Sowas werden wir wohl nie fertig bringen. Komisch eigentlich. Dabei hat sich die Todesstrafe doch bewährt. Zumindest eine Zeit lang. Und besteht aktuell sogar noch in einigen wenigen Regionen. Theoretisch müssten wir das gute Menschenfleisch doch gar nicht wegwerfen. Könnte man doch verwerten. Wenn mal Krieg kommt.

Und der kommt ja bestimmt. Nachdem der zu klein geratene Nordkoreaner und die amerikanische Schmalzlocke um die Wette rüsten und sich profilieren, wer denn nun den Größeren hat, wird sicher mal wieder Krieg kommen.

Und dann ist es doch nur praktisch, ein wenig Vorrat im Haus zu haben. Oder etwa nicht? Wobei, das bezeichnen wir ja als zu pervers. Wer legt sich schon Leichenteile in die Truhe…

Zugegeben, etwas über’s Ziel hinaus. Aber wäre es denn nicht wirklich ein wundersames Erlebnis, die Welt für einen Tag auf den Kopf zu stellen? Ich wäre zutiefst erfreut.

Nicht nur, weil wir aufwachen würden, sondern weil auch ich – jener verkappter Autor, der diese Zeilen eifrig in die Tasten haut – sicher noch einiges lernen würde.

Und wer weiß – Vorsicht, Utopie! – vielleicht würde diese Welt doch ein ganz ganz ganz ganz ganz ganz ganz ganz ganz kleines Stückchen besser werden. Würde ja schon reichen. Für eine Lebenszeit.

Den Rest können dann meine Enkel übernehmen. Falls sie jemals diesen Text lesen werden.