San Francisco im Sommer (#3)

Es ist vier Uhr dreißig am Morgen. Ich bin hellwach. Mit weit geöffneten Augen und einem vermutlich leichten Grinsen in der Mundregion liege ich auf dem Rücken; die dünne Bettdecke über mich gestreift. Das warme Licht der fensterhohen Straßenlaternen fällt an die gegenüberliegende Zimmerwand. So, als wäre es noch immer mitten in der Nacht. Nur der sich heimlich erhellende Horizont lässt erahnen, dass es bis zu den ersten Sonnenstrahlen nicht mehr ganz so lang dauern würde.

Die Nacht war kürzer als gedacht – oder länger. Ganz, wie man es nimmt. Ein leichter Jetlag scheint mir zu schaffen zu machen. Natürlich würde ich das nie zugeben, wenngleich es an Wahrheitsgehalt kaum zu übertreffen wäre.

Dennoch bedingt nicht bloß die Zeitumstellung mein frühes Erwachen. Der vergangene Abend hat mich fröhlich gestimmt. Und deutet auf eine tolle Zeit hin, die von nun an vor uns liegt. Es war unser erster echter Abend in der „City by the Bay“. Die bunte Vielfalt des Mission District, die in der Luft liegende zwischenmenschliche Leichtigkeit und die außergewöhnlich bemalten Häuserschluchten: All das haben wir längst ins Herz geschlossen.

Kurze Zeit später steht auch Jasmin vor mir. Lächelnd, wenn auch etwas zerknittert blinzelnd dreinschauend, umschließt sie mich mit beiden Armen. Ihr Grinsen bohrt sich tief in meinen Brustkorb. Ein gemurmeltes „Guten Morgen“ gefolgt von einem „Hast du auch so gut geschlafen?“ geht ihr über die Lippen, ehe Millie und Nube uns begrüßen, wir uns voneinander lösen und in den Tag starten.

Es fühlt sich lohnenswert an. Gar heimisch, auf eine verrückte Art und Weise. Ich glaube, ich möchte all das näher kennenlernen. Vertiefen – ja, eintauchen in diese Stadt und womöglich nie wieder zurückkehren. Wer weiß, was uns noch erwartet.

Von Werten und Cojones

Als ich noch klein war, hielt ich mich für ziemlich erwachsen. Das Gefühl, in meinem jungen Alter bereits alles besser zu wissen, als meine Eltern und mein sonstiges ursprünglich wohlwollendes Umfeld, durchdrang meine Lebenserfahrung Tag wie Nacht.

Ich hörte nicht auf meine Lehrer. Schule war ohnehin Unfug. Ich lauschte auch nicht den mahnenden Worten meines Vaters, wenn ich wieder einmal Mist gebaut hatte – sah ich mich doch ohnehin im Recht. Ich wusste mich aus jeder noch so glasklaren gegen mich sprechenden Situation herauszuwinden. Ich fand die Schuld bei Anderen. Ich selbst blieb unversehrt. Ich war derjenige, der alles richtig macht.

„L’état, c’est moi“, hieß es einst bei einem französischen Kaiser. Hätte ich im Geschichtsunterricht besser aufgepasst, wüsste ich sicher noch, wer genau dahinter steckte. Sicher ein Napoleon oder einer der zahlreichen Ludwigs. Doch auch, wenn ich kein Kaiser war, so stieg mir meine wohl behütete Jugendrolle hier und da zu Kopfe. Ich sah mich zwar nicht als den Staat in Person. Jedoch als weltmännisch genug, um in meiner an sich verheißungsvollen Ausgangssituation immer wieder den Elefanten im Porzellan-Laden zu geben.

Dabei hätte es schlichtweg gereicht, meine innere Haltung zu verändern. Weg vom Null-Bock und Die-Anderen-sind-alle-doof hin zu ein wenig mehr Fleiß. Auch bei den Dingen, die keine Freude bereiten.

Meine Oma würde an dieser Stelle sicher intervenieren und mir zur Seite springen. Um einzuwerfen, dass ich es auch nicht immer leicht hatte – und mir viele Steine in den Weg gelegt worden seien. Doch, sorry Oma, nüchtern betrachtet hatte ich es verdammt leicht. Vielleicht sogar zu leicht – schließlich muss man sich aus pubertierender Teenager doch an irgendetwas aufreiben. Und vielleicht mangelte es mir genau daran. Also legte ich mir eine Art Phantomschmerz zu. Junge Menschen bedürfen schließlich möglichst viel Aufmerksamkeit.

So in etwa wie der Fußballspieler Neymar, der sich bei der vergangenen Weltmeisterschaft sage und schreibe über 1.000 Meter lang über den Rasen kugelte, um unter Beweis zu stellen, wie ungerecht doch mit ihm umgegangen wurde.

Bildlich gesprochen kugelte ich mich auch gern. Besonders dann, wenn mich einer meiner vermeintlich unfairen Lehrer wieder foulte. Dabei handelte es sich maximal um ein leichtes Trikotzupfen. Inzwischen glaube ich sogar, dass mich der Großteil meiner Lehrer sogar gut leiden konnte und ich schlicht zu versessen war, um dies zu begreifen. Bestimmt gab es Ausnahmen. Aber im Großen und Ganzen habe ich auch hier dem ein oder anderen Lehrkörper unrecht getan.

Ich erinnere mich gut, als mein damaliger Kunstlehrer uns als Klasse mitteilte, er warte auf einen dringenden Anruf während des Unterrichts und müsse sich dafür kurz zurückziehen. Wir, damals Siebtklässler ohne jegliche Fähigkeit zur Empathie, wussten natürlich darauf zu reagieren und drängten ihn mit allerlei Unannehmlichkeiten in die Ecke. Als sein Handy klingelte, verschwand er im Hinterzimmer. Nach gut 10 Minuten, der Anruf dauerte nicht lang, kam er zurück, um ins Kreuzverhör genommen zu werden. Wurde er wohl gekündigt? Hatte seine Frau ihn verlassen? Muss er zum Direktor? Sind seine Haustiere gestorben? Etwa nochmals 10 Minuten dauerte dieser unwürdige Fragenhagel an, während er vergeblich versuchte, den Unterricht fortzuführen. Worum es sich handelte, verriet er uns nicht.

Er starb wenige Wochen später. An Krebs, wovon er in jenen 10 Minuten erfahren haben musste, in denen wir uns im Klassenzimmer über sein sonderbares Verhalten nicht nur amüsierten, sondern regelrecht lustig machten.

Ich erinnere mich nicht genau, wie ich damals reagierte, als ich von seinem Tod erfuhr. Sicher hat mich unsere damalige Reaktion als Klasse innerlich zerfressen, keinesfalls aber war ich nachdenklich gestimmt. Er hätte ja die Wahrheit sagen können, wäre mir sicher über die Lippen gekommen, hätte mich jemand danach gefragt.

Ähnlich verhielt es sich mit einem meiner Klassenkameraden. Wir, damals eine vermeintliche Clique, wenn auch nicht sonderlich loyal untereinander, standen eng zusammen. In den Pausen wurde Fußball gespielt, über Mädchen gesprochen und Einer stand für den Anderen in der Cafeteria Schlange, während der Andere die Tischtennisplatte freihielt und vor den Fremden aus der Parallelklasse schützte. Markus jedoch gehörte nicht dazu. Weder zu den Fremden aus der Parallelklasse, war er doch Teil unserer Klasse, noch aber zu unserer Clique. Dabei hatte er uns nichts getan. Imgrunde war er sogar nett. Erst kürzlich habe ich mir sein Facebook-Profil angesehen. Und bei Gott, ich kann mir nicht erklären, warum wir den armen Kerl damals so mies behandelt haben.

Doch damals galt er als rotes Tuch. Er stand für alles, was wir nicht waren: Politisch engagiert, strebsam im Unterricht und den Lehrern gegenüber loyal. Er lachte nicht mit, als es unserem damaligen Religionslehrer die Sprache verschlug, ehe er verstarb. Vielleicht grenzten wir ihn auch genau deshalb aus. Weil wir innerlich wussten, dass er uns auf der ein oder anderen Ebene ein gutes Stück voraus war. Nicht unbedingt von seiner Leistung in der Schule her. Vielmehr aber von seinem Habitus und seiner Sicht auf die Dinge.

All diese Ansichten und Ausgrenzungen änderten sich jedoch, sobald die Glocke erklang und der Politik-Unterricht begann. Weder ich noch sonst jemand aus unserer Clique kannte sich aus oder wusste dieses Fach überhaupt zu schätzen. Also taten wir, was pubertierende Teenager tun: Wir freundeten uns für 90 Minuten mit Markus an, der sich für eine kurze Zeitspanne wie im siebten Himmel, gebettet in engste nie endende Freundschaft, fühlen musste. Nur, um ihn danach wieder fallen und das Projekt-Plakat tragen zu lassen.

Meine damalige Klassenlehrerin beobachtete all dies mit Argus-Augen. Sie hatte schon immer ein gutes Gespür für junge Menschen. Und so cool ich mich auch immer gab, innerlich war sie mir ungeheuer sympathisch. Doch sie war auch ein Freund klarer Worte im Umgang mit jungen Schülern, und so rief sie uns zu sich, um über unseren Umgang mit Markus zu sprechen. Sie hat lange auf jeden Einzelnen von uns eingeredet und an unsere Vernunft appelliert. Zugegeben, das fruchtete nicht unbedingt. Jedoch sagte sie einen Satz, der mir bis heute Wort für Wort im Hinterkopf bleibt: „Was ihr da macht, nennt man ‚ausnutzen‘.“ Zack. Der hatte gesessen. Zum ersten Mal in meinem zarten jungen Alter stieß mir jemand vor den Kopf. Ich erfuhr zum ersten Mal, das ich etwas falsch gemacht hatte. Mich nicht korrekt verhalten habe. Und in mir regte sich der Drang, das zu ändern. Ich wollte niemanden ausnutzen.

Hin und wieder setzte ich mich neben Markus. Während der Klassenfahrt gab er sogar netterweise vor, sich für meine Lieblingsserie zu interessieren und wir unterhielten uns kurz darüber. Natürlich nur, wenn niemand anders anwesend war. Er war ein netter Kerl, wie ich zunehmend feststellte. Doch um das auch anderen begreiflich zu machen, fehlten mir wohl damals die cojones. Ich war nicht der Anführer der Gruppe, sondern unterlag schlicht dem Herdentrieb.

Inzwischen bereue ich das Ein oder Andere zutiefst. Denn selbst nach der eindrücklichen Ansage unserer Klassenlehrerin ging das Spiel natürlich weiter. Ich glaube, wir alle fühlten uns schuldig und waren bereit, etwas zu ändern. Den konkreten Schritt in die richtige Richtung ging aber niemand. Schließlich wollte man cool sein. Selbst nicht ausgegrenzt werden. Immerhin wusste jeder von uns, was einem da blüht.

Man könnte nun sagen: „Ja, Kinder sind nun mal grausam.“ Aber so einfach ist das nicht. Kinder sind nicht einfach grausam. Kinder sind per se offen – auch für Kinder, die anders sind. Jugendliche dagegen, können grausam sein. Besonders untereinander.

Wie so häufig im Leben, sollte sich auch für mich der Spieß irgendwann drehen. In etwa der neunten oder zehnten Klassen war ich derjenige, der eher außen vor war. Nicht allzu gut integriert.

Ich hatte eine gewisse Zurückhaltung entwickelt und war nicht mehr unbedingt der Sunnyboy, zu dem mich meine Klassenlehrerin zu Anfang meiner weiterführenden Schullaufbahn mal erklärt hatte. Inzwischen war die Pubertät in vollem Gange – und in meinem Körper, und mit allem, was sonst noch daran geknüpft war, fühlte ich mich so gar nicht wohl. Hinzu kam, dass meine Klassenkameraden ein gutes Stück älter waren, bereits Parties besuchten und begannen, Alkohol zu trinken.

Ich hingegen war nur einmal, auf dem Abschlussball meines Tanzkurses, reichlich betrunken – und legte genau dann ein Sabbatical in Sachen Alkohol ein, als all meine Klassenkameraden fleißig die örtlichen Parties ansteuerten. Ich blieb zu Haus. Traf mich mit meinem besten Freund aus Kindergartentagen und verbrachte die meiste Zeit vor der Spielekonsole.

Wegen meines dennoch teils extravagantem Kleidungsstils wurde ich oft gehänselt. Ich war inzwischen derjenige, der anders war. Meine damalige Clique hatte langsam aber sicher registriert, dass sich der Lebensstandard meiner Eltern sich hin und wieder von dem der ihren unterschied. Und, wie wir all die Jahre gelernt haben, ist etwas Anderes nicht gut. So war ich nun der „neue Markus“. Letzterer übrigens hatte sich meines Vernehmens nach in seiner neuen Klasse gut eingefunden.

Meine Rolle dagegen veränderte sich: Ich wurde gefeiert, wenn ich samt Tennis-Team die westfälischen Schulmeisterschaften gewann. Im Sport-Unterricht konnte man mich beim Badminton gebrauchen. Für ein geschenktes Brötchen in der Cafeteria war ich der optimale Ansprechpartner. Aber für eine einfache Gruppenarbeit zu Zweit? Weit gefehlt.

Natürlich, es ergab sich nicht die Extremsituation, der wir Markus Jahre zuvor aussetzten. Aber gewisse Parallelen bestehen, und ich möchte nicht leugnen, dass ich nicht ganz unschuldig daran war. Irgendwann begann ich, die mir gemachten Vorwürfe zur Schau zu tragen. Ich fand mich in der Rolle zurecht, anders zu sein. Trug noch extravagantere Kleidung auf, entzog mich vielerlei sozialer Kontakte, fokussierte mich auf meine nie stattfindende Tennis-Karriere und war vielen Lehrern sowie dem Großteil meiner Klasse fremd.

Dankbar bin ich dennoch jenen Freunden, die noch heute aus dieser etwas schweren Zeit übrig sind. Erst kürzlich traf ich mich mit einer treuen Seele, die mir bestätigte, was damals schief lief. Ich war immer ein netter Kerl, man verbrachte gern Zeit mit mir. Aber mein andersartiges Auftreten schreckte wohl den ein oder anderen an sich liebenswerten Charakter ab. Das Kuriose daran: Im Nachhinein bescheinigt man mir ein tatsächlich erhöhtes Selbstbewusstsein – obwohl eher das Gegenteil der Fall war. Ich verkleidete mich zum Teil als Jemand, der mit meiner Rolle besser umgehen konnte. Und von außen wurde ich als genau dieser Jemand identifiziert.

Es gäbe noch zahlreiche Beispiele, die die Grausamkeit und Verzweiflung pubertierender Jungs angemessen darstellen. Etwa meine exakt drei Monate an der Schule verweilende Englisch-Lehrerin im Vertiefungskurs – die einzig und allein aufgrund unserer sozial zweifelhaften Glanzleistung als Klasse die Schule verließ. Oder die Geschichte der weinenden Kunstlehrerin, die aufgrund ihres neuen Nachnamens gehänselt wurde.

Im Nachhinein kann ich nicht erklären, wie all das zustande kommen konnte. Ich behaupte, ich komme aus einem guten Elternhaus. Meine Eltern brachten mir Werte bei, die ich heute zu schätzen weiß, und erzogen mich zu einem anständigen Menschen.

Doch vor einer gewissen Gruppendynamik, die, ehe man sich versieht, zur vermeintlich nicht hinterfragungswürdigen Eigendynamik gedeihen kann, ist kaum jemand geschützt. So dürfte sich auch ein Großteil der menschlichen Geschichte auf einfachste Weise erklären lassen.

Um hier eine Lösung des Problems zu erzielen, verhält es sich an sich recht einfach: Wir brauchen Eier. Nichts anderes hätte ich damals gebraucht, um mich vor und nicht lachend hinter Markus zu stellen. Weil er ein netter Kerl war und ich das erkannte. Nichts anderes hätte ich gebraucht, um mich nicht verkleiden zu müssen. Nichts anderes hätten wir als Klasse gebraucht, um den Religionslehrer für kurze Zeit seine Ruhe zu lassen.

Man hätte sich selbst zurücknehmen und nur für einen kurzen Moment jemand anders in den Mittelpunkt stellen müssen. Und vielleicht ist es genau das, woran wir gesellschaftlich immer mehr kranken: Jeder möchte im Mittelpunkt stehen. Auf Kosten eines Anderen.

Genau damit sollten wir schnellstmöglich aufhören. Im Sinne aller Religionslehrer, aller Anderen und aller, die anders sein möchten.

Toleranz ist das Stichwort. Und Respekt.

Gute alte Werte, die heute sicher einen Hashtag wert wären.

Momentaufnahme: In 40.000 Fuß Höhe

Wie ein kaltes Stück Steak liegen meine Unterschenkel flach und regungslos auf der für sie vorgesehenen Ablage. Gelegentlich zuckt einer der beiden unvorhersehbar, wenn auch unauffällig. Ich träume. Und mein Oberkörper hängt einer ruhenden Kobra gleich in der wohlgepolsterten Schale des Sitzes.

Wenige Atemzüge später zieht mein Bruder samt meines Vaters an mir vorbei. Kein Schulterklopfen, kein Schütteln, vielleicht ein Schmunzeln – hatten wir doch wenige Minuten zuvor noch vereinbart, nicht einzunicken. Ich konnte nicht anders. Sie lassen mich schlafen. Höflich.

Mit jeder Turbulenz wiegt mich das Flugzeug tiefer ins Reich der Träume. Die Anschnallzeichen erleuchten, der gestartete Film findet sein Ende – nichts bringt mich aus der Ruhe.

Erst, als die Stewardess mit Premium Vanille Ice Cream an mir vorbei schlendert und mich ebenso wie meine mitgereisten Familienmitglieder ignoriert, erwacht wohl jenes Organ, das meine Mutter humorvoll als „Dessertmagen“ bezeichnet. Mit trockenen und maximal zu einem Drittel geöffneten Augen greife ich nach der Eiscreme. Ich nutze sogar einen echten Löffel.

Wenige Minuten später stehe ich auf zügig voranschreitenden, wenn auch wackligen Beinen. Erst jetzt bemerke ich, dass ich das einzige familiäre Überbleibsel in halbsenkrechter Position in diesem Teil der Kabine bin.

Einige Schritte weiter tönen Stimmen. Tiefes, ehrliches und teils dreckiges Lachen erfüllt den hinter dem Vorhang befindlichen Raum. Schön zu wissen, dass mein Bruder bereits zugegen ist. An der Theke lehnend, zur Linken unseres Vaters, grinst er mich an. „Na, auch schon wach?“ Max gluckst etwas. Vermutlich vor Vorfreude. Jene schreibe selbstredend ich meiner Anwesenheit zu.

„Da ist er ja“, höre ich Dirk rufen. Überschwänglich klopft er mir auf den Rücken.  Er lehnt sich zurück an die Theke und blickt einen neben ihn stehenden Mann über den Rand seiner Brille an. „Mit den Beiden bin ich unterwegs.“ Stolz deutet er auf meinen Bruder und mich. „Klassische Herrentour“, beginnt er seinen Satz, „im vergangenen Jahr waren wir in Irland und …“ – „Familie ist das Wichtigste“, bricht es etwas plötzlich und leicht sentimental aus seinem augenscheinlichen Gesprächspartner heraus, „Ihr macht das schon genau richtig! Mein jüngster Sohn ist auch mein bester Freund. Klasse, wenn man so etwas noch machen kann.“ Niemand von uns kennt seinen Namen.

„Darf es noch etwas sein?“ Die Stewardess sieht uns mit verheißungsvollem Blick an. Offensichtlich zählen wir nicht zu den Risikotrinkern an Bord. Sonst würde sie uns nicht nicht einen weiteren Drink anbieten. Sie spricht Deutsch.

„Erst vor kurzem habe ich meine Firma verkauft! Und seitdem fliege ich ein bisschen durch die Welt, beruflich bedingt.“ Seine angeschwitzten Finger rutschen auf der Theke auf und ab. Redselig wie in der ersten Minute gestikuliert er weit über den Thekenrand hinaus. Sein Bauch hängt spitz über seinen Hosenbund hinaus und schaukelt äquivalent zu den Turbulenzen hin und her.

Einst sei er auch First Class geflogen, eröffnet er uns und blickt stolz in die Runde. Der Unterschied sei zwar äußerst gering, jedoch sei der Flieger unverhofft überbucht gewesen. Was tut man nicht alles.

Das Gespräch dauert noch etwa eine halbe Stunde an. Max und ich verzogen uns inzwischen in die Lounge und beobachten das Treiben von hinten. Über die Lehne gebeugt sehen wir aus dem Fenster: Baghdad. Es braucht nur wenige Sekunden, bis wir uns tief in die Augen schauen und wie ferngesteuert feststellen: Ja, auch Baghdad wäre spannend.

Ein offenkundig leeres Bierglas setzt unsanft auf der Theke auf. Das klirrende Geräusch von strapaziertem Glas reißt uns aus unseren irakischen Träumereien. Nur der kleinste Teil des Glasbodens tangiert die für ihn ursprünglich vorgesehene Serviette.

Der uns nach wie vor unbekannte, wenn auch äußerst redselige Mann verlässt die Bar. Er trägt Socken.

Ich erhebe mich und schlendere gen Theke. Mein Bruder begleitet mich. „Und, wer war der gute Herr?“, frage ich neugierig. Mein Vater zuckt mit den Schultern. „Das weiß ich nicht“, entgegnet er. Eine wohl alltägliche Erscheinung. „Nehmen wir noch eins?“ Er deutet auf die Dose Oktoberfestbier, die sich – fast schon als Souvenir – noch an Bord befindet. Wir nicken, die Gläser füllen sich. Ein kurzes Zuprosten, lachende Augen und ein Schluck Bier in 40.000 Meilen Höhe.

Jetzt beginnt, was wirklich zählt. Denn was wirklich zählt, ist Familie.

Die Lektion, die niemand lernt

Ich stehe an der Kasse. In meiner Hand halte ich eine Ananas, deren grüne Krone stetig an meinem Unterarm kratzt.

Vor mir steht ein Mann mittleren Alters. Er trägt eine alte, hellblaue Jeans und graue Sicherheitsschuhe. Seine Haare schimmern leicht fettig im kalten Licht der Neonröhren, die das Fließband, das sein Ende bei der Kassiererin findet, beleuchten.

Auf dem Band machen drei Dosen RedBull, eine Packung Zigaretten, die aus dem automatischen Zigarettenkasten soeben auf das Band gefallen waren, sowie eine Tafel Schokolade breit. Inmitten dieser Produkte liegt ein einsamer Apfel, der ähnlich schimmert wie die fettigen Haare des Mannes.

Der Mann gibt keine Acht auf seine Gesundheit. Aber das macht nichts. Denn er weiß es nicht. Und auf diese ganzen gesunden Phrasen legt er keinen Wert. „Es ist ja noch immer gut gegangen“, wird er sich sagen. Und dass man sich durch eine gesündere Ernährung besser fühlen könnte, kann er sich nicht vorstellen.

Er greift zur Zigarettenschachtel, als die Kassiererin den Strichcode mit einem lauten „Piep“ eingescannt hatte und ihm entgegen schiebt. Sein Bizeps zieht sich zusammen, als er seinen Arm krümmt.

Fitness ist ihm wichtig. So wichtig, dass seine Familie manchmal darunter leidet – aber das fällt ihm gar nicht auf. Dass man sich beim Training darüber hinaus gesund ernähren sollte, um den Körper wirklich gesund zu halten, davon hat er zwar schon gehört. Aber Gedanken macht er sich darüber nicht. Die Muskeln wachsen schließlich. Und das ist das Einzige was zählt. Das sieht man ja auch.

Sein Auto riecht nach stickigem Rauch und eingesessenen Stoffsitzen. Den Fußraum des Beifahrersitzes zieren einige McDonalds-Papiertüten, die er nach der Arbeit immer sorgsam beim McDrive auf die Ablage stellt und während der Fahrt öffnet, um die Burger mit einer Hand zu vertilgen, während die Andere das Auto lenkt. Ein wahrer Genuss.

Er findet, sein Leben macht Spaß – und ist gut so wie es ist. Dass all das tödliche Nebenwirkungen haben könnte, ist für ihn nicht greifbar. Schließlich sagt es ihm niemand.

Man sagt zwar, der Körper würde ständig mit einem kommunizieren – aber reden kann er scheinbar nicht. Und darum wird er nicht gehört. Was nicht zu sehen oder zu hören ist, existiert für ihn nicht.

Sein Körper jedoch schreit. Sein Körper weiß nicht mehr wohin mit sich. Sein Körper weiß nichts mehr mit sich anzufangen und verarbeitet Tag für Tag Giftstoffe.
Für ihn ist es normal geworden. Etwa so, als würde man sich an die Sklaverei gewöhnen. Aber sein Körper hat das geschafft. Denn sein Körper ist ein Genie. Sein Körper verlangt mittlerweile sogar immer mehr und mehr – bis er schließlich nicht mehr kann.

„Aber dann war es wenigstens ein gutes Leben“, würde sich der Mann dann sagen. Zumindest würde er das zu Anderen sagen. Innerlich würde er sicher etwas bereuen. Aber nach Außen niemals kommunizieren. Vielleicht würde er in diesem Moment feststellen, dass menschlicher Genuss nicht im Konsum unzähliger Süchtigmacher und Giftstoffe, sondern in einfachen Momenten an unbeschreiblichen Orten mit bezaubernden Menschen geschieht. Und dass Konsum – in welcher Hinsicht auch immer – kein Stück dazu beiträgt.

Doch dann würde es zu spät sein. Dann hätte er die Chance verspielt. Dann wäre es endgültig aus. Und die Lektion umsonst gelernt. Denn sein Körper gibt nun auf.

Und ein Fahrer ohne Auto – das ist noch Zukunftsmusik. Genau wie ein einhundert prozentig gesunder Mensch.

Ich lege meine Ananas auf das Kassenband und zücke mein Portmonee.


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Ein Spaziergang mit Dickhäutern – Teil Zwei

Joes Rüssel umschließt für einen kurzen Moment meine Hand und saugt schließlich alle vier Bananen an sich. Seine Haut fühlt sich auf eine unbeschreibliche Art und Weise zeitgleich hart wie weich an. Grobe Rillen zeichnen die Struktur seines Rüssels, dessen Spitze ganz weich und hautfarben beschaffen ist. Auf seiner ein wenig eingerollten Rüsselspitze liegen nun vier grüngelbe Bananen, die in wenigen Sekunden in seinem Mund verschwinden werden. Als ich zum letzten Mal seinen Rüssel streicheln kann, entzieht er sich kurz darauf meiner Hand und verschwindet für kurze Zeit im gewaltigen Schatten seines Mundes.

Big Daddy Joe streckt mir seinen Rüssel entgegen und schnuppert an meiner rechten Hand, in der vor ein paar Sekunden noch eine Banane lag, die allerdings für den neben ihm stehenden Babyfanten bestimmt war. Da kleine Elefanten keine härteren Bananen mit grünen Schälen vertragen, füttern wir sie mit geschälten oder weichen gelben Exemplaren. Diesmal zum Leidwesen von Big Daddy Joe, dem Größten der Bande. Ich greife noch einmal in den Korb, der links neben mir auf dem Boden steht und strecke dem überwältigenden Tier vier grüngelbe Bananen entgegen. Joes Rüssel umschließt für einen kurzen Moment meine Hand „Ein Spaziergang mit Dickhäutern – Teil Zwei“ weiterlesen